Ein Bericht von Michael Althaus
Die rumänischen Karpaten zählen zu den letzten
Gebieten Europas, in denen Bär, Wolf und Luchs in beträchtlicher Zahl überlebt
haben. Schätzungsweise 4.000 Braunbären, 3.000 Wölfe und 1.500 Luchse durchstreifen
das 900 km lange Gebirge. Das entspricht etwa der Hälfte aller in Europa
lebenden Braunbären und 1/3 des europäischen Wolfsbestands (ohne die russischen
Populationen). [1]
In den vergangenen Jahren wurden in Rumänien Projekte
zum Schutz dieser drei großen Beutegreifer und ihrer Lebensräume initiiert. Am bekanntesten:
Das vor zwei Jahren beendete Carpathian
Large Carnivore Project (CLCP)
unter der Leitung von Christoph
Promberger. Es verknüpfte die wildbiologische Forschung mit der Entwicklung
von Strategien für ein möglichst konfliktfreies Zusammenleben von Mensch und Beutegreifer.
Außerdem wurde ein ökotouristisches Programm erarbeitet, dessen Anliegen es ist,
Naturschutz und wirtschaftliche Interessen der hiesigen Bevölkerung miteinander
in Einklang zu bringen.
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s ist acht Uhr morgens. Beinahe etwas spät für unser Vorhaben. Wir sind mit Andrei C.
verabredet, der als Förster und Oberjagdmeister für ein 13.000 Hektar großes Revier in den nordöstlichen Ausläufern des Făgăraş-Gebirges verantwortlich ist. Unter seiner Führung möchten wir hier eine 5-stündige Fußsafari unternehmen, um eine Wildnis hautnah zu erleben, wie sie heute nur noch in wenigen Gegenden Europas zu finden ist.Nachdem Andrei sein Gewehr aufgeschultert hat brechen wir auf. Unser Weg führt uns zunächst durch hüfthohes, jetzt am Morgen noch taunasses Reitgras. In den letzten Tagen hat es hier in den Südkarpaten viel geregnet, und so genießen wir die wie neu geborene Natur in ihren morgenfrischen, leuchtenden Farben umso mehr.
Wir erfreuen uns an den vielen Blumen, die hier auf den Wiesen blühen. Johanniskraut, Karthäusernelke, Glockenblumen und wilde Gladiolen gedeihen in verschwenderischer Pracht. Wir finden auch noch die Kugelorchis, deren Blütezeit sich jetzt, Anfang Juli, dem Ende zuneigt.
Aus der Ferne weht der Duft frisch gemähten Heus herüber. Das Gras wird hier in Rumänien, wie von alters her, noch mit der Sense geschnitten.
Nicht lange und wir kreuzen die Spur eines Keilers, der heute Nacht hier durchgezogen ist. Etwas weiter stoßen wir auf unsere erste Bärenfährte. Sie ist erst wenige Stunden alt. In dem für Bären typischen Trott ist das Tier auf seiner nächtlichen Suche nach Essbarem von den bewaldeten Berghängen ins Tal herunter gekommen.
Andrei liest in den Spuren wie in einem Buch. Etwas weiter, in feuchtem Lehmboden, erkennen wir die Trittsiegel einer Hirschkuh. Sie führte ein Kalb mit sich. Irgendetwas hat die beiden möglicherweise irritiert, denn sie wichen von ihrer ursprünglich eingeschlagenen Richtung ab, machten nach einigen Schleifen aber wieder kehrt, um ihren eigentlichen Weg fortzusetzen.
Immer wieder greifen wir zu unseren Ferngläsern, um das Gelände nach Tieren abzusuchen. Dabei beobachten wir einen Schreiadler, wie er von einem Baumwipfel auffliegt und davon segelt.
Wir durchstreifen unwegsamen Busch, in dem der Faulbaum gedeiht, und erreichen den Rand eines Laubmischwalds, in dem vorwiegend Buchen und Eichen wachsen.
Unsere Neugier auf die hier lebenden Tiere ist groß, und so nutzen wir jede sich bietende Gelegenheit, um Andrei im Flüsterton zu befragen. Weil wir kein Rumänisch sprechen, bedienen wir uns dazu eines bunten Mix aus Französisch, Englisch, Italienisch und Deutsch. Polyglott gibt uns Andrei Auskunft:
„In meinem Zuständigkeitsbereich leben zur Zeit drei Wolfsrudel mit insgesamt 12 erwachsenen Tieren. Die Größe der Rudel schwankt jahreszeitlich. Im Winter kommen nämlich auch Wölfe aus anderen Gegenden in mein Revier, wodurch sich die Wolfspopulation verdoppelt. Im letzten Winter hatten wir drei Rudel mit 13, 9 und 3 Tieren.“
Der Grund für diese saisonabhängige Zuwanderung liegt im großen Bestand an Schwarz-, Rot- und Rehwild im Revier. So leben auf dem 130 km2 großen Gebiet etwa 140 Hirsche und 160 Rehe – wichtige Nahrungsgrundlage der Wölfe im Winter, wenn ihnen keine Hausschafe als Beutetiere zur Verfügung stehen. Diese werden im Herbst von ihren Sommerweiden in den Hochlagen hinab in die Dörfer getrieben, wo sie in Stallungen überwintern.
Die Sterblichkeitsrate unter den Jungwölfen ist hoch. Lediglich ein Viertel von ihnen überlebt. Sie fallen Krankheiten, Wilderern und streuenden Hunden aus den umliegenden Ortschaften zum Opfer.
In Andreis Revier leben 6 Luchse, ca. 27 Wildkatzen und, in den alpinen Felsenregionen, 22-24 Gämsen.
Wir können es kaum glauben, als wir die große Anzahl der im Revier lebenden Braunbären erfahren. Es sind 26-28, etwa so viele wie derzeit in ganz Österreich leben. Für diese immense Population ist nicht nur der weitgehend noch intakte Naturraum mit seiner nahrhaften Vegetation und dem vielen Schalenwild verantwortlich.
Unter der Herrschaft des damaligen rumänischen Staatspräsidenten N. Ceauşescu (1965-1989) wurden hier im Gebiet Bären angefüttert, um sie dann vom Hochstand aus bequem beim Fressen abschießen zu können. Um möglichst viele Bären vor die Büchse zu bekommen, stockte man den natürlichen Bestand noch durch Bären aus zoologischen Gärten auf. Und für besonders große Trophäen wurde zusätzlich der Kodiakbär ausgewildert. Dieser Gigant unter den Bären ist das größte Landraubtier der Erde und kommt nur in Alaska auf der Insel Kodjak vor.
Auch heute noch werden Bären angefüttert, allerdings nur noch, um zahlenden Touristen die Beobachtung von Bären in freier Wildbahn zu erleichtern.
Wir steigen jetzt hinauf in den lichten Laubmischwald. Durch die Baumkronen dringt genug Helligkeit auf den Waldboden, damit Schösslinge und Sträucher gut gedeihen können. Mühsam geht es jetzt voran, denn der Regen der vergangenen Tage hat den steilen Pfad aufgeweicht und wir bekommen kaum festen Tritt unter die Füße.
Bei unserem Anstieg scheuchen wir einen Rotfuchs auf, der in hohen Sprüngen das Weite sucht. Wir bleiben stehen, und Andrei imitiert gekonnt den Pfiff einer Maus, um ihn wieder anzulocken. Doch Reinecke Fuchs lässt sich nicht auf das Spiel ein und ist rasch verschwunden.
Hier im steilen, unwegsamen Geländen, den ungünstigen Lichtverhältnissen und unseren leider nie ganz zu vermeidenden Trittgeräuschen ist die erfolgreiche Pirsch schwierig.
Wir erreichen eine Anhöhe und sehen auf dem Weg eine große Anzahl von Tierspuren. Wölfe, Bären, Rot- und Schwarzwild, Rehe und sogar ein Dachs, dessen Trittsiegel dem eines „Minibären“ ähnelt, waren hier unterwegs. Wir scheinen auf eine Art Hauptverkehrsweg der Tiere des Waldes gestoßen zu sein.
Hier in den Karpaten, wie auch anderenorts, unternehmen Wölfe und Bären ihre Wanderungen zumeist im Schutz der Nacht. Auf der Suche nach Nahrung legen sie dabei Entfernungen von 25 bis 40 km zurück.
Nicht selten gelten ihre Streifzüge menschlichen Siedlungen in der Umgebung oder aber den Tierherden auf den Sommerweiden. Manchmal kommt es dabei zu unliebsamen Begegnungen zwischen Menschen und den an sich scheuen Beutegreifern.
Im Falle des Bären entstehen daraus manchmal gefährliche Konfrontationen. Kommt es dabei zu Unglücksfällen, so liegt das nicht selten am krassen Fehlverhalten des Menschen. Mit lautem Schreien oder Stöcken versucht er den Bär zu vertreiben und riskiert dabei selbst Kopf und Kragen. So werden immer wieder Menschen durch Bären verletzt ‑ zum Teil schwer. Doch Andrei relativiert: „In den letzten 20 Jahren ist nur ein einziger Mensch in meinem Revier durch einen Bärenangriff ums Leben gekommen“.
Menschen vergessen nur allzu leicht, dass der Braunbär ein mächtiger Beutegreifer ist, der trotz seiner behäbig wirkenden Art auf kurze Distanzen eine Geschwindigkeit von 60 km/h erreichen kann. Und mit einem Körpergewicht von bis zu 300 kg hier in den Südkarpaten besitzt er mehr als genug Kraft, um einem Schaf mit einem einzigen Prankenhieb das Rückrat zu zertrümmern.
Wir sind jetzt weit genug aufgestiegen, um einen guten Einblick in die tiefer gelegenen Zonen des Waldes zu haben. Auch der Wind steht günstig. Er kommt von vorne und das Wild kann uns nicht so schnell wittern.
Da hebt Andrei auf einmal die Hand – für uns das Signal anzuhalten. Ganz unten in einer Senke, wo der Pflanzenbewuchs besonders dicht wuchert, steht, von Sträuchern fast völlig verdeckt, eine Hirschkuh. Sie ist vielleicht 150 Meter entfernt.
Leider haben wir nur kurz Gelegenheit sie zu beobachten, da sie sich in noch dichteres Gebüsch bewegt. So schnell geben wir aber nicht auf. Langsam und ganz leise schleichen wir uns von der entgegen gesetzten Seite an die Stelle an, wo wir den Hirsch zuletzt gesehen haben.
Das Anpirschen ist mühsam, weil das Gelände steil und der Boden glitschig ist. Wir brauchen 20 Minuten bis wir in die Nähe der Stelle kommen. Doch die Vegetation scheint das Tier regelrecht „verschluckt“ zu haben. Es gibt jetzt eigentlich nur noch eine Versteckmöglichkeit ... Kaum haben den Gedanken zu Ende gedacht, als die Hirschkuh gerade einmal 40 Meter neben uns aus dem Dickicht bricht und mit weiten Sätzen flieht. Sie ist nicht allein. Ein etwa 2 Monate altes Kalb folgt ihr behände.
Gemächlich kehren wir zum Ausgangspunkt unserer ersten Rotwildsichtung zurück und lesen auf dem Weg Pfifferlinge auf, die dank der reichlichen Niederschläge der letzten Tage jetzt reichlich sprießen. Wir können uns nicht erinnern, jemals prächtigere Exemplare gesehen zu haben. Gerade mal 10 Minuten brauchen wir, um eine Tüte mit 3 Pfund Pilzen zu füllen.
Wir fragen Andrei, ob wir nicht noch etwas tiefer hinein in die buschigen Zonen des Waldes gehen wollen. Doch der rät ab. Hier befänden sich Zonen, in denen Bären tagsüber ruhten. Eine führende Bärin mit Jungen verstünde keinen Spaß und reagiere bei solchen Störungen zumeist aggressiv. Auch wenn Andrei zu unserem Schutz ein Gewehr dabei hat, so wollen wir natürlich keine Konfrontation provozieren.
Im Bogen umrunden wir die Senke, wobei wir eine weitere Hirschkuh und einen Uhu aufschrecken.
Danach finden wir Gelegenheit uns mit Andrei über den Schutz dieser einzigartigen Wildnis zu unterhalten.
Außer den gesetzlich festgelegten Abschussquoten gäbe es keinerlei Schutzmaßnahmen zum Erhalt dieses Gebiets, erfahren wir. Aus einiger Entfernung dringt der Motorenlärm von Kettensägen zu uns, was Andrei zum Anlass nimmt, uns über die unterschiedlichen Interessenslagen hier in der Region aufzuklären:
„Der größte Teil des Reviers ist im Besitz der umliegenden Gemeinden und von Privatleuten. Diese betrachten den Wald in erster Linie unter Gesichtspunkten des wirtschaftlichen Ertrags. Zwar ist die Fläche, die pro Jahr abgeholzt werden darf, per Gesetz auf 3 Hektar pro Eigentümer beschränkt. Grenzen aber mehrere Privatbesitze aneinander, so werden oft weit größere Flächen abgeholzt. Das Ergebnis sind dann Kahlschläge in Größenordnungen von unter Umständen 20 Hektar.
Am ehesten decken sich noch die Interessen von Naturschützern und Jägern. Trotz ihrer jeweils unterschiedlichen Beweggründe setzen sich beide Interessengruppen für den Erhalt möglichst großer, zusammenhängender Naturräume ein.“
Bevor wir den Wald verlassen, deponiert Andrei an einem Baumstumpf einen mehrere Kilo schweren Mineral-Leckstein, den er die ganze Zeit im Rucksack mitgeschleppt hat. Die Spuren im dunklen, morastigen Waldboden und der Geruch, weisen diese Stelle untrüglich als eine Wildschweinsuhle aus.
Nachdem wir uns einen steilen, glitschigen Abhang hinuntergetastet und von den leckeren Walderdbeeren dort gekostet haben, folgen wir einem Pfad durch Jungholzbestand.
Mitten auf dem Weg kündet eine noch frische, schwarz glänzende Losung von wahrhaft stattlichem Ausmaß davon, dass hier vor wenigen Stunden ein Bär vorbei gekommen ist. Wir fotografieren unseren Fund und zerteilen ihn anschließend. Neben unverdauten Pflanzenteilen finden sich darin Steinchen, die Bären gelegentlich als Verdauungshilfe schlucken.
Unsere Safari neigt sich dem Ende zu. Der Weg zum Ausgangspunkt führt uns noch einmal durch feuchtes Buschland. Käme ein Bär auf die Idee hier Siesta zu machen, wir würden ihn vermutlich viel zu spät sehen, und es könnte Ärger geben.
Wir fühlen uns an die dichte Buschvegetation Indiens erinnert, wo Safaris wegen der potenziellen Gefahr, die von im Dickicht verborgenen Tigern ausgeht, mit Elefanten durchgeführt werden.
Dankbar für das Erlebte, verabschieden wir uns von Andrei, der uns mit auf den Weg gibt, im Winter doch noch einmal hierher zu einer Fußsafari zurück zu kommen. Das „tracking“ und die Beobachtung von Wölfen sowie den sehr schwer aufzuspürenden Luchsen seien dann wesentlich leichter. Selbst die Bären, die ja eigentlich Winterruhe halten, kämen gelegentlich zur Nahrungssuche aus ihren Lagern.
Auf der Rückfahrt denken mein Begleiter und ich über Möglichkeiten nach, diese ursprüngliche Wildnis dauerhaft zu schützen.
Da die lokalen Interessen zu widersprüchlich sind, und auch der geplante Beitritt Rumäniens zur EU den Konflikt zwischen Naturschutz und wirtschaftlichen Verwertungsinteressen eher noch zuspitzen dürfte, scheint uns eine Initiative auf internationaler Ebene zur Bewahrung dieses Wildnisparadieses Erfolg versprechender.
Letztlich würde auch die hier ansässige, stark von Arbeitslosigkeit betroffene Bevölkerung von einer derartigen Schutzinitiative profitieren.
Naturbegeisterte Touristen würden wegen der hier noch intakten Wildnis, deren prominenteste Vertreter nun einmal Wolf, Bär und Luchs sind, vermehrt in die Region kommen. Und diese großen Beutegreifer ‑ bisher von der einheimischen Bevölkerung in erster Linie als Verursacher wirtschaftlicher Schäden am Nutzvieh wahrgenommen ‑ bekämen so die Rolle von Förderern eines bescheidenen Wirtschaftswachstums in den zumeist strukturschwachen Karpatenregionen. Konzepte eines naturverträglichen Ökotourismus existieren und werden von einigen lokalen Touristikunternehmen bereits seit einigen Jahren umgesetzt.
[1] zur europäischen Bärenpopulation vgl. auch: BBC Wildlife Magazine, April 2005 (vol. 23, no. 4)
Die Veröffentlichung des Berichtes erfolgt
mit freundlicher Zustimmung des Autors. (Juli 2005)